Muttersprachenpop – die wichtigsten Veröffentlichungen im August 2020

Deutschsprachiges zwischen Euphorie und Kapitulation, zwischen Pathos und Befindlichkeit. Ausgewählt von Dominik Oswald.

Helge Schneider
© Helge Schneider / Rooftop

100 Kilo Herz – »Stadt Land Flucht«

100 Kilo Herz
© Michael Bomke

»Ich will kein Teil von eurem Leben sein / Ich schenk euch maximal den Schierlingsbecher ein«: 100 Kilo Herz, die Leipziger Punk-Band »mit Bläsern« – der Begriff »Ska« wird zurecht auch eher gemieden – hat keine Zeit zu verlieren, keine Zeit für Schabernack. Bereits das erste Stück »Drei Jahre ausgebrannt« auf dem zweiten Album »Stadt Land Flucht«, das auf dem sehr sympathischen Berliner und Dortmunder Label Bakraufarfita Records erscheint, gibt die Marschrichtung vor: Hier hat man verständlicherweise keinen Bock auf die politischen Umstände im Osten, grenzt sich bewusst ab und legt an vielen Stellen den Finger in die wunden Punkte: Wo die Kacke am schlimmsten dampft, muss man am härtesten auf sie draufhauen, sozusagen. An anderer Stelle wird’s durchaus auch mal persönlich, im Hit »… und aus den Boxen …But Alive« wird etwa von einer Party erzählt, bei der Glück an Alkohol geknüpft wird und dann auch gute Mucke aus den Boxen strömt. Apropos: Das kann man uneingeschränkt auch für »Stadt Land Flucht« behaupten. Bockstark!

»Stadt Land Flucht« von 100 Kilo Herz erscheint am 07.08.2020 via Bakraufarfita Records. Tour im Herbst, (noch) keine Österreich-Termine.

Kommando Kant – »Aussterben ist ein schönes Hobby«

Kommando Kant
© Kommando Kant / DevilDuck

Wenn man aus Hamburg und (!) Husum kommt, dann sind eigentlich die musikalischen Schienen fest gelegt und kennen nur zwei Richtungen: Klassischer Northern Punk der Turbostaat-Schule oder ebenjene aus Hamburg – Diskurs…, du weißt schon. Die bereits seit 2012 bestehenden Kommando Kant, die mit dem schön fatalistischen Titel »Aussterben ist ein schönes Hobby« nach vierjähriger Release-Pause ihr zweites Album in die Regale einsortieren lassen, haben sich – wenn man so will – für den Mittelweg entschieden: Krachender, mitunter leicht metallischer Indie- und/oder Alternative Rock der amerikanischen 90er, gepaart mit persönlichen Inhalten, die sehr häufig auf eskapistischen Motiven beruhen, dem Dualismus aus der großstädtischen Anonymität und der doch überall empfundenen kleinstädtischen Beklemmnis. So etwa auch in der Single »Stuck Inside Neugraben With The Deathwish Blues Again«, auch wenn dort die S-Bahn bis ins Hamburger Zentrum nur 26 Minuten braucht. Insgesamt ist »Aussterben ist ein schönes Hobby« eine gute Platte, die aber nicht ganz ihrem sehr schönen Titel gerecht wird.

»Aussterben ist ein schönes Hobby« von Kommando Kant erscheint am 14.8.2020 via DevilDuck. Aktuell keine Österreich-Termine.

Helgen – »Die Bredouille«

Helgen
© Joseph Ruben Heicks

Es mag zwar nicht das Paradoxon schlechthin unserer Zeit sein, spannend ist es dennoch: Obwohl immer mehr individualisiert wird, sich alles ausdifferenziert, klingt Musik irgendwie immer ähnlicher. Differenzierung, ein Alleinstellungsmerkmal oder auf neudeutsch USP, sind in Hinblick auf die kommerzielle Verwertbarkeit wichtiger als Melodien oder Songs. Und das muss man der Hamburger Gruppe Helgen schon lassen: Sie ist unverwechselbar, ihr eher softer Indie-Pop lässt klar Referenzen zu, bleibt aber eigenständig. Und, das kommt auch dazu, auch die Songs sind schon eine Klasse für sich: Bereits auf dem ersten Album »Halb oder gar nicht« (2017) konnte man das feststellen, der Nachfolger setzt da sogar noch einen drauf: Die 11 Stücke beweisen großes Gespür für Popmelodien (vor allem »Tschüss« sticht hier hervor), aufgrund der mitunter recht schmalzigen Süße an manchen Stellen, wird man die Zielgruppe neben guilty pleasure seeking individuals aber wohl dann doch eher bei jener für Die Höchste Eisenbahn oder Von Wegen Lisbeth finden. Das ist zwar tendenziell schade, aber dem eigenen Hörgefühl sollte das keinem Abbruch tun.

»Die Bredouille« von Helgen erscheint am 07.08.2020 via Chateau Lala. Österreich-Termin (ja, tatsächlich): 2.10., Rhiz, Wien.

Helge Schneider – »Mama«

Helge Schneider
© Helge Schneider / Rooftop

Hätte man sich vor – äh – dreißig Jahren wohl auch nicht wirklich gedacht, dass der olle Helge auch im – äh – »Internetzeitalter« ein Riesenhit wäre. Wie denn auch? Egal. Dass eine neue Single vom Meister nach zwei Wochen an der halben Million auf Youtube kratzt, dass er zum Fitfluencer wird, alles das ist schon ganz komisch. Dass sein neuer Hit »Ich setz mein Herz bei E-bay rein« so gekonnt lakonisch mit dem Nonsens aktueller Zeiten spielt, ist noch komischer. Dass er dennoch nicht groß Bock auf das Computerzeugs hat, zumindest was seine Alben betrifft, bemerkenswert: Ganz auf altmodisch hat Schneider nämlich sein bereits 14. Album – wenn man halt »dem« Internet glauben schenken darf, erst 2019 erschien »Partypeople (Beim Fleischer)« – in Eigenregie aufgenommen: Alle Instrumente – angeblich auch das legendäre »Jagdwursthorn« selbst eingespielt, sein für ihn typischer Weirdo-Jazz klingt frisch und analog und gut natürlich sowieso. Man sollte sich das zwar schon auf Platte anhören, natürlich ist live aber immer noch ein bisschen besser. Und man wird 2021 die Möglichkeit dazu haben. Also Stand jetzt.

»Mama« von Helge Schneider erscheint am 28.8.2020 via Roof Records (Rough Trade). Österreich-Termine: 26., 27.3.2021: Stadthalle F, Wien sowie 6.5.2012: Glenthof, Imst.

Außerdem erwähnenswert:

Pippa – » Idiotenparadies«

(VÖ: 28.8.2020)

Nachdem das Debüt »Superland« aus dem Vorjahr für einiges Brimborium sorgen konnte, lässt das zweite Album ähnliches erhoffen: Pippa schafft es, alle Spielarten moderner Popmusiker zu deklinieren – mit Hans »Neuschnee« Wagner als Partner und Arrangeur, dem die große Geste bekanntermaßen nicht fern liegt, ist das ein leichtes Unterfangen. Ja, Pippa hat das Zeug zu einem heimischen Popstar zu werden, die Songs auf »Idiotenparadies« bringen sie auf den Weg. Wer mehr erfahren möchte, dem sei die aktuelle Ausgabe von thegap empfohlen.

Tocotronic – »Sag alles ab (The Best of 1994-2020)«

(VÖ: 21.8.2020)

Jaja, der Corona-Joke muss natürlich sein: Während alle anderen Touren absagen, sagt Tocotronic »jein«: »Ja« zu einem erneuten Best-of, »nein« zum branchenüblichen Erscheinungstermin rund um Weihnachten: Zum 27-jährigen Jubiläum gibt’s für jeden unterschiedliche Fan-Status das richtige Angebot: Eine Best-of-Version inklusive neuem Song namens »Hoffnung« (3 LPs/ 2 CDs), eine Raritäten-Version (2 LPs) oder eine 4-CD-Version, die Best-of und Raritäten beinhaltet. Ganz schön ausgeklügelt. Oder so. Apropos ausgeklügelt: Das vielleicht beste »Live«-Video überhaupt.

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