Totgeglaubte leben länger – Über den anhaltenden Vinylboom

Die Schallplatte war eigentlich schon für tot erklärt worden, dann hoben sie die Musikfans doch noch aus dem Grab. Schuld ist die Digitalisierung und ein Erlebnis, das mehr als nur den Hörsinn reizt. Zum Status quo in Sachen Vinyl.

Die Jungen seien aufs Vinyl gekommen, wird ein Warner-Music-Manager in »Die Rache des Analogen« zitiert, weil ihre Eltern iPods und Facebook für sich entdeckt hatten, also zur Abgrenzung. Dass sie nun Plattenspieler kaufen – etwa vom überaus erfolgreichen österreichischen Hersteller Pro-Ject –, die ja bekanntlich nur Platten abspielen können, sei wie ein Investment, dank dem der Vinylmarkt auch weiter wachsen werde, so eine andere Einschätzung aus Sax’ Buch.

Volksfeststimmung im April

Doch zu einem weiteren wesentlichen Faktor in der jüngeren Erfolgsgeschichte der Schallplatte: dem Record Store Day. Ins Leben gerufen 2008 in den USA, um zu zeigen, dass unabhängige Plattenläden – anders als zu dieser Zeit gerne angenommen – durchaus erfolgreich geführt werden können, ist der dritte Samstag im April mittlerweile auch für die heimischen Shops einer der Höhepunkte im Geschäftsjahr. Siegfried Wacker, der den Indie-Vertrieb Good To Go in Österreich vertritt und die Facebook-Gruppe Vinyl Austria betreibt, berichtet etwa begeistert von »Volksfeststimmung« im Musikladen Salzburg mit zwei Livebands und 180 Leuten im bzw. vor dem Geschäft. Der Plattenladenfeiertag sei jedenfalls absolut positiv für die Branche. »Man muss halt aufpassen, dass die Majors nicht alles zuschwappen«, spricht Wacker aber auch Kritik an, die in den letzten Jahren aufgekommen ist. Mit speziellen Record-Store-Day-Releases hätten es manche übertrieben: »Eine Justin-Bieber-Picture-Disc braucht kein Mensch.«

Auch die inflationären Reissues – zu den erfolgreichsten Schallplatten des vergangenen Jahres zählen laut IFPI Alben von Nirvana, Amy Winehouse und The Beatles – stoßen vielen in der Branche schon sauer auf. Wegen ihrer zunehmenden Lieblosigkeit, die an Geschäftemacherei denken lässt, aber auch, weil sie ohnehin knappe Verkaufsflächen im Handel belegen. Und darüberhinaus noch die Produktionskapazitäten der wenigen Vinylpresswerke zusätzlich strapazieren. Selbst wenn es dank einiger Neugründungen und neuer Hersteller für Plattenpressen besser geworden ist: Wartezeiten von mehreren Monaten sind durchaus üblich und treffen vor allem die kleinen Bands und Labels.

Gebraucht, aber gut

Wie der Markt für Neuware erfreut sich auch jener für gebrauchte Schallplatten guter Gesundheit, wobei zu diesem kaum verlässliches Zahlenmaterial zur Verfügung steht. »Auf Börsen, Messen und natürlich Flohmärkten wird zum Großteil Gebrauchtware gedealt«, erzählt Till Philippi vom Vinyl & Music Festival. »Gemeinsam mit dem, was in Second-Hand-Läden und vor allem auf Online-Plattformen umgesetzt wird, ist das meiner Einschätzung nach mehr als bei der Neuware.« Um zumindest eine Zahl zu nennen: Bei Discogs, einer der wichtigsten der angesprochenen Online-Plattformen, sollen laut eigenen Angaben 2017 fast acht Millionen Platten verkauft worden sein.

Auch Plattenbörsen und -flohmärkte legen zu: Beim Vinyl & Music Festival in der Ottakringer Brauerei gibt es neben gut gefüllten Plattenkisten auch Jukeboxen, Instrumente, Livebands und vieles mehr zu begutachten. © Esther Crapelle Photography

Auf Philippis Veranstaltung gibt es nicht nur die typischen Standler von den Plattenbörsen, sondern auch Hardware-Anbieter (gerade wieder im Kommen: Jukeboxen), Poster-Artists, Indie-Labels und Konzerte. Das Publikum ist daher eher gemischt, aber es finden sich natürlich auch zuverlässig die klassischen Sammler: männlich, 50 plus, immer auf der Jagd und 10.000 bis 100.000 Platten zuhause in den Regalen. »Für manche ist es eine Wertanlage, andere stehen auf ein bestimmtes Genre und suchen Sachen, die sie noch nicht kennen«, so Philippi. In solchen Größenordnungen sei das Habenwollen teils schon wichtiger als die Musik. »Wobei: Ohne Musikleidenschaft würde man nicht anfangen zu sammeln.«

Das Erlebnis Vinyl, das gerne etwas unzeitgemäß mit Bildern von loderndem Kaminfeuer und schwerem französischem Rotwein ausgeschmückt wird, ist in jedem Fall eines für alle Sinne: Zum Regal gehen, den Finger über die Rücken der Sleeves wandern lassen, eine Platte herausnehmen, ihr großformatiges Cover begutachten, das Vinyl vorsichtig aus dem Karton ziehen, die Nadel ebenso vorsichtig aufsetzen, das typische Knistern hören, bevor die Musik einsetzt, und dann einfach genießen – zumindest 15 Minuten lang, bis das Ende der ersten Seite erreicht ist und die Platte umgedreht werden muss. In Sachen Streaming sind eher keine derartigen Rituale überliefert. Oder wie der Musiker Jack White, Analog-Enthusiast und Neo-Presswerkbesitzer, einmal gesagt hat: »There is no romance in a mouse click.«

Verlangsamtes Wachstum

Dass der Vinylboom noch eine Zeit anhalten wird, da sind sich unsere GesprächspartnerInnen einig, wenn auch bei verlangsamtem Wachstum. Und auch dass die Schallplatte – anders als man vor 30 Jahren angenommen hatte – jetzt sogar die CD überlebt, halten die meisten für wahrscheinlich. Neben der Haptik und dem Klang – eine Sache der Weltanschauung! – sei einer der großen Vorteile gegenüber der CD, dass Vinyl nicht oxidiert und verrottet, so Till Philippi. Und im schlimmsten Fall lässt sich das PVC einer Schallplatte ja noch relativ einfach einschmelzen und recyceln. Anders als die CD, die auf Grund ihrer Zusammensetzung (Polycarbonat, Aluminium, Schutzlacke) als Problemstoff entsorgt werden sollte.

Das Vinyl & Music Festival findet am 3. und 4. März in der Ottakringer Brauerei in Wien statt, der Record Store Day am 21. April in zahlreichen teilnehmenden Plattenläden weltweit. Das Buch »Die Rache des Analogen – Warum wir uns nach realen Dingen sehnen« von David Sax ist im Residenz Verlag erschienen.

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