Eine Dekade, aber als Lebensgefühl – Was bleibt von den 2010ern?

Zehn Jahre sind entweder sehr lange oder sehr kurz. Wenn es um eine popkulturelle Analyse geht: unfassbar lang. Um eine erschöpfende Einordnung aller relevanten Erscheinungen und Geschehnisse zu liefern, hätten wir einen mindestens 2010-seitigen Sammelband herausgeben müssen. Stattdessen wollen wir in unserem Dossier eine feine Auswahl an Themen bearbeiten, die das vergangene Jahrzehnt genauso wie uns geprägt haben. Illustriert wurden alle Texte von Lisa Schrofner. Wo warst du, als die 2010er vorbei waren?

The Great Austropop Swindle – Österreichischer Pop

von Dominik Oswald

© Lisa Schrofner

Noch nie war österreichische Musik im eigenen Land so erfolgreich wie in den 2010er-Jahren. Über jene, die das alles ermöglicht haben, große Hits und ein gesellschaftliches Phänomen.

Es ist ein Wunder und gleichzeitig ein wunder Punkt. Österreichischer Pop ist im zu Ende gehenden Jahrzehnt wieder das, was er schon alleine per definitionem sein müsste: populär. Unabhängig von Hörgewohnheiten oder der mittlerweile völlig aufgelösten Kontravalenz von Mainstream und Underground: Die österreichischen MusikerInnen sind gekommen, um zu bleiben, um auch im Ausland mit ihrer eigenen Art zu überzeugen. Zumindest manche von ihnen.

Der Wiederaufstieg und die gesamtgesellschaftlich gestiegene Relevanz von Austropop – ja, wir bedienen uns wieder der schon in den 70ern völlig unzureichenden Hilfsbegrifflichkeit, die sämtliche österreichische Musiken und Genres in eine herkunftsbezogene Schublade steckt! – ist aber nicht einfach so passiert, sondern fast eine Zwangsläufigkeit. Es ist das Resultat von gezielten Fördermaßnahmen, aber vor allem auch eines gesellschaftlichen Umbruchs.

Auferstanden aus fast ruinösen Zuständen

Aber fangen wir ganz woanders an: Es wächst nur dort etwas aus dem Boden, wo schon a bisserl was ist. Und in den Nullerjahren ist ein bisserl was. Nachweisbar. FM4 listet etwa in den Top 100 seiner Jahrzehntecharts für diese Dekade immerhin vier Alben aus Österreich, die vor 2009 erschienen sind, – von Gustav (gleich doppelt vertreten), Attwenger und Naked Lunch. Bei den 2005 etablierten Austrian Indie Charts schaffen es bis zum ominösen Jahr 2009 auch immerhin rund vier Bands pro Jahr in die Albencharts. In den Verkaufscharts sieht die Sache dann schon wieder ganz anders aus: In die Top 50 der Bestenliste aller in Österreich zum Verkauf stehenden Alben der Nullerjahre schaffen es zwar zwölf Alben, aber nur wenige mit Pop-Appeal. Auch wenn das eine kleine Steigerung zu den noch viel düstereren 90ern mit nur vier Alben in den Top 50 ist, ist es zumindest kein Lob für das Pop-Land Österreich.

© Lisa Schrofner

Dass da Nachholbedarf herrscht, wird allerdings auch bald klar. Gottlob erscheint dann 2009 eine Trias von Alben, die als Startschuss für ein neues Verständnis von Popmusik aus dem Underground – der schließlich Mainstream werden sollte – gilt, und quasi zur Initialzündung für das neue Jahrzehnt wird: »Lovetune For Vacuum« von Soap & Skin, »Down in Albern« von Der Nino aus Wien und »The Angst And The Money« von der Gruppe Ja, Panik. Erstmals seit Langem wird mit eigenwilliger, verkopfter, aber mitunter als »typisch österreichisch« empfundener Popmusik, die sich teilweise stark an die alten HeldInnen von ganz früher anlehnt, ein Publikum erreicht, das sich mit seinen KünstlerInnen identifizieren kann.

Fördermaßnahmen

Mit den ersten kleinen Erfolgen – auch im Ausland – wächst in Österreich der Wunsch nach einer Plattform, die sich der mittlerweile deutlich vitaleren Szene annimmt und Raum für sie schafft. Mit dem Popfest, das 2010 erstmals bei freiem Eintritt mitten am Karlsplatz stattfindet und von der Stadt Wien mit satten 150.000 Euro subventioniert wird, bekommt sie schließlich ihren prominenten Platz. Anfangs eher indielastig öffnet sich das Popfest im Laufe des Jahrzehnts mit unter- schiedlichen KuratorInnen für diverse andere Musikrichtungen. Auch das seit 2015 stattfindende Electric Spring hat nur österreichische Acts am Line-up stehen – aus den Bereichen Hip-Hop und elektronische Musik. Da mit Tonträgerverkäufen ohnehin kein Geld mehr zu machen ist, sind diese Festivals bei freiem Eintritt wichtige Möglichkeiten, auf sich aufmerksam zu machen und weitere Gigs zu bekommen. Eine willkommene Abwechslung in Zeiten, in denen die ganz Großen wie Donauinselfest, Nova Rock und Frequency eher noch einen Bogen um heimische KünstlerInnen machen. Zusätzlich tragen auch die zumindest in der Zahl wachsenden Fördermöglichkeiten Früchte, MusikerInnen erhalten zumindest einen kleinen finanziellen Beitrag. Die Anzahl der veröffentlichten und vor allem gut rezipierten Alben wächst.

»Rolling Stones oder Beatles?«, »Oasis oder Blur?«, »Wanda oder Bilderbuch?«

Als vorläufiger Höhepunkt der aufstrebenden und mit deutlich mehr Selbstvertrauen ausgestatteten österreichischen Szene darf man dann durchaus die Zeit um den Jahreswechsel 2014 auf 2015 benennen: In einem Anflug von schierem Größenwahn wurde in (ehemaligen) Indie-Kreisen und ziemlich bald darauf im vermeintlichen Mainstream – auch angefeuert durch deutsche Magazine, die beide Bands am Cover haben – die Glaubensfrage neu gestellt: Wanda oder Bilderbuch? Während Erstere, zu dem Zeitpunkt noch als Lausbubenbande mit Hang zum Exzess inszeniert, überraschend schnell und endgültig vor allem die breite Masse erreichten – »Amore« bleibt 139 Wochen in den österreichischen Albumcharts –, entscheiden sich auch viele für die artsy inszenierten Bilderbuch, die erst mit ihrem 2013er- Hit »Maschin« zu Höherem berufen wurden und schließlich mit dem Longplayer »Schick Schock« im Februar 2015 die Charts toppen. Während Wanda in den Folgejahren mit sämtlichen Alben wie dem häufig kritisierten »Bussi« (2015), »Niente« (2017) und »Ciao!« jeweils auf der Eins in Österreich und in den Top 5 in Deutschland landen, reüssieren auch Bilderbuch: »Magic Life« (2017) und »Mea Culpa« (2018) positionieren sich auf Platz zwei in den österreichischen Albumcharts, »Vernissage My Heart« (2019) sogar ganz oben.

© Lisa Schrofner

In der Zwischenzeit wird die breite Masse in Österreich aber von einem totgeglaubten Genre verzaubert: Dialekt-Kabarett-Rock, gemacht für die ganz großen Bühnen dieses Landes. Seiler und Speer sind mit ihrem Überhit »Ham kummst« aus 2014 – mittlerweile hat das Video dazu über 38 Millionen Views erreicht – 58 Wochen in den Singlecharts. Und ihre drei Alben sind natürlich alle ganz oben platziert. Auch Pizzera & Jaus, die ab 2015 gemeinsame Sache machen, schlagen voll ein: Songs wie »Absätze > Hauptsätze« und »Hooligans«, aber vor allem »Jedermann« und »Eine ins Leben« erobern ganz Österreich – zwischen Hochzeiten und Zeltfesten, zwischen Erstsemesterfest und Poesiealbum. Der offensichtliche Hype erlaubt es sogar Special-Interest-Bands wie etwa den zugegeben sehr famosen Turbobier oder Voodoo Jürgens, dem König des Tschocherls, die Charts auch einmal von oben zu sehen, aber auch Ernst Molden platziert sich viermal in den Top 6.

Die Stars der Stunden vergessen dabei nie ihre Urahnen. Seiler und Speer veröffentlichen mit Wolfgang Ambros. Ernst Molden & Der Nino aus Wien covern Lieder von Acts wie Falco oder Sigi Maron, Danzer oder Heller & Qualtinger. Spätestens jetzt fällt’s auf: Es ist und bleibt eine ziemliche Würschtelparty.

Hulapalu

Wir sehen also: Für ein österreichisches Pop-»Wunder« benötigt es eine Infrastruktur, die etwas möglich macht, und auch Lieder und SongschreiberInnen, die Wege für andere freischaufeln. Aber es benötigt auch ein Umfeld, das diesen Bezug zu Musik aus der »Heimat« verstärkt: die Retraditionalisierung der Gesamtgesellschaft. In Zeiten der Turboglobalisierung und der sogenannten »Flüchtlingskrise«, manifestiert sich diese etwa in einem drastischen Zuwachs der Heiratsraten. 2009 haben laut Statistik von 1.000 ÖsterreicherInnen 4,3 geheiratet, 2018 waren es 5,3 – die höchste Zahl seit 1996. Das Traditionelle betonen auch Phänomene wie die Wiener Wiesn (erstmals 2011), YouTube-Hypes wie »I kenn die von mein Handy« oder alles von Die Draufgänger, 23.000 TrägerInnen von Kik-Trachten bei Andreas Gabalier in Berlin (!), und die Wahlergebnisse sowieso. Nicht falsch verstehen: Nur weil jemand gerne Pizzera & Jaus hört, ist diese Person nicht automatisch gegen Flüchtlinge. Aber all die Erfolge von österreichischen Bands und all dieser Hype um österreichisch gesungene Musik sind auch Ausdruck eines veränderten Lebensgefühls, eines veränderten Begriffs von »Heimat«, einer positiven Aufwertung von ebenjener Heimat. Dieses Umfeld ermöglicht es heimischen MusikerInnen mehr als in den Jahrzehnten davor, Ausdruck der Lebenswelten der Zuhörenden zu sein.

Newsletter abonnieren

Abonniere unseren Newsletter und erhalte alle zwei Wochen eine Zusammenfassung der neuesten Artikel, Ankündigungen, Gewinnspiele und vieles mehr ...