Eine Dekade, aber als Lebensgefühl – Was bleibt von den 2010ern?

Zehn Jahre sind entweder sehr lange oder sehr kurz. Wenn es um eine popkulturelle Analyse geht: unfassbar lang. Um eine erschöpfende Einordnung aller relevanten Erscheinungen und Geschehnisse zu liefern, hätten wir einen mindestens 2010-seitigen Sammelband herausgeben müssen. Stattdessen wollen wir in unserem Dossier eine feine Auswahl an Themen bearbeiten, die das vergangene Jahrzehnt genauso wie uns geprägt haben. Illustriert wurden alle Texte von Lisa Schrofner. Wo warst du, als die 2010er vorbei waren?

Zukunftsmusik – Streaming

von Walter Gröbchen

© Lisa Schrofner

Was bleibt von den 2010ern? In der Musikbrache lässt sich das mit einem Wort sagen: Streaming. Mit allen Vor- und Nachteilen. Für KonsumentInnen ist der Zugang zu Musik sehr bequem geworden. Auf Kosten der KünstlerInnen und der kleinen Labels.

Wer den Rückblick auf die Zukunft der Vergangenheit wagt, landet – hoppla! – in der Gegenwart. Die sieht für die Musikindustrie nicht so schwarz aus, wie man etwa ab der Jahrtausendwende lange Zeit dachte. Man hat dort nämlich längst kapiert, dass man mit einem Indie-Label, einem kleinen Musikverlag und einem Plattenladen kein Magnat, Millionär oder gar Großindustrieller ist. »Kunst ist schön, macht aber viel Arbeit« – diese Karl Valentin zugeschriebene Lebensweisheit bringt mein Dasein auf den Punkt. Selbst die Leute, die in den lokalen Büros von Universal, Sony oder Warner sitzen, stöhnen gelegentlich. Wirklich Spaß macht es wohl nur in den ChefInnenetagen der Headquarters in London oder New York, wenn die Gehaltsschecks betrachtet werden. Und die Boni-Mitteilungen für den guten Geschäftsgang.

Aber ist der Geschäftsgang so positiv? Die Zahlen sprechen dafür. In der rituellen IFPI-Pressekonferenz, im Rahmen derer der Dachverband der österreichischen Musikindustrie die Ergebnisse des vergangenen Jahres be- kanntgibt, hieß es im Frühjahr 2019: Grundsätzlich wurde der Turnaround geschafft. Nach einer langen Spanne des Niedergangs – man sehe sich die brutale Delle in der Statistik an! – legt das Geschäft mit Tonträgern und Digital-Files seit 2017 wieder deutlich zu. Geschuldet ist das zuvorderst dem Thema Streaming, also dem Abruf von Musik aus dem Netz. Egal, ob Spotify, Apple Music, Google Play, Deezer, Amazon, Tidal – man bezahlt heute, so man denn etwas bezahlt, für den bequemen Zugang zu Musik, nicht für den Besitz.

Was waren nochmal genau Downloads?

Nun ist Streaming fast schon ein alter Hut. Es wird damit, was den Musikkonsum betrifft, seit dem Vorjahr auch hierzulande mehr Umsatz erzielt als mit althergebrachten, physischen Tonträgern wie der CD und der Schallplatte. Tendenz: rasch steigend. Allerdings ist Österreich ein Nachzügler, gemeinsam mit Ländern wie Deutschland und Japan. In Skandinavien wird fast nur mehr per Smartphone oder Netz-Receiver gehört. »Smarte« Berieselungs-Playlists für den Alltag in der WG, im Büro oder Design-Wohnzimmer sind en vogue. ExpertInnen führen gern den plakativen Spruch im Mund, Streaming sei »das neue Radio«. Darüber lässt sich trefflich streiten, zumal ja das altgediente UKW-Dampfradio auch auf die Entwicklung reagiert, seine Sendungen (oder ganze Sparten-Musiktruhen) ins Netz stellt und »on demand« nachhören lässt. Oder, wie der ORF, darüber nachdenkt, für eigene Kanäle und Plattformen spezifische Inhalte zu produzieren, die eben nicht mehr per Ultrakurzwelle zu empfangen sein werden. Wenn es sich um audiovisuellen Content handelt, will man gar in Konkurrenz mit You-Tube, Netflix & Co. treten. Dass das auch eine entsprechende Kriegskasse voraussetzt, sollte man dann bei Gelegenheit der heimischen Medienpolitik flüstern.

Dass als handfeste Antithese zum Streaming-Boom auch der Verkauf von Schallplatten zugenommen hat, ist ein Nischenwunder, macht das Kraut aber nicht fett. Die CD ist tot – wird aber, dem Rieplschen Gesetz zufolge, nie ganz von der Bildfläche verschwinden. Und was waren nochmal genau Downloads? Wenn nun die Verknüpfung der Streaming-Funktionalität mit Alltagsschnittstellen wie Google Home, Amazon Echo oder dem Apple Home-Pod weiter auf dem Vormarsch ist, dürfen wir Alexa & Co. glückstrunken um die Bilderbuch- Hymne »Bungalow« in höchster Lautstärke ersuchen? »By the rivers of cashflow«? Nein. Denn viele Sorgen und Nöte der Musikindustrie sind ungelöst. Ich will dabei weniger zynisch und präziser in meiner Definition werden: »Industrie« schließt selbst- verständlich Musikerinnen und Musiker, Autoren und Texterinnen, Bookerinnen und Veranstalter, Manager, Musiklehrerinnen und Medienmacher mit ein. Wussten Sie, dass die Vielzahl der winzigen Indie-Labels mehr österreichische Töne produziert und veröffentlicht als die transnationalen Major-Giganten? Und dass diese, gemeinsam mit ihren KünstlerInnen, seit Jahr’ und Tag um genug Brösel vom Kuchen kämpfen müssen, um nicht zu verhungern?

Wo spielt die Zukunftsmusik?

Die österreichische Regierung hatte sich für ihre EU-Ratspräsidentschaft vorgenommen, im digitalen Zukunftsgeschäft für fairere Bedingungen für Kreative zu sorgen. Die Wege dahin sind umstritten, weitergegangen ist eher nichts. Noch immer sind es mickrigste Cent-Bruchteile, die Spotify und andere pro Stream ausschütten – bei den UrheberInnen landen dann meist nur mehr Bruchteile von Bruchteilen. Noch immer sind alte Verträge, deren geringe Erlösanteile auf dem physischen Geschäft basierten, nicht leicht anfechtbar. Noch immer bleiben weite Teile des Business 2.0 undurchsichtig, unkontrollierbar, ungreifbar. Die größte und reichste Streaming-Quelle von allen – YouTube – darf ungebrochen der Unfairness, Undurchsichtigkeit und parasitären Geschäftemacherei bezichtigt werden. Der Vertrag mit der AKM etwa, der staatlich monopolisierten Genossenschaft der AutorInnen, KomponistInnen und VerlegerInnen, muss – Non-Disclosure-Agreement! – strikt geheim bleiben. Und wir alle spielen teils freudig, teils zähneknirschend mit. Ewig kann das so nicht weitergehen. Wo spielt die Zukunftsmusik? Die Sache mit der HörerInnen-Agglomeration ist wohl gelaufen. Es sind lokale Initiativen wie die sehr spezifischen Dienste »ForTunes« rund um die Gründer Florian Richling und Christoph Mück oder »Legitary« (Nermina Mumic, Peter Filzmoser, Günter Loibl), die aktuell Aufmerksamkeit verdienen. Sie helfen Kreativen, sich in der schönen neuen Online-Musikwelt zurechtzufinden. Merkbare Lebens- zeichen zu setzen. Und Spotify auf die Finger zu klopfen, wenn die Abrechnungen nicht stimmen. Gut so.

Walter Gröbchen, geboren 1962, ist Verleger, Journalist und Kurator. Gemeinsam mit Partnern betreibt er den Wiener Plattenladen Schallter Audio & Records sowie die Musik- und Kommunikationsagentur Monkey – inklusive Label und Verlag.

Newsletter abonnieren

Abonniere unseren Newsletter und erhalte alle zwei Wochen eine Zusammenfassung der neuesten Artikel, Ankündigungen, Gewinnspiele und vieles mehr ...