Zehn Jahre sind entweder sehr lange oder sehr kurz. Wenn es um eine popkulturelle Analyse geht: unfassbar lang. Um eine erschöpfende Einordnung aller relevanten Erscheinungen und Geschehnisse zu liefern, hätten wir einen mindestens 2010-seitigen Sammelband herausgeben müssen. Stattdessen wollen wir in unserem Dossier eine feine Auswahl an Themen bearbeiten, die das vergangene Jahrzehnt genauso wie uns geprägt haben. Illustriert wurden alle Texte von Lisa Schrofner. Wo warst du, als die 2010er vorbei waren?
Live, laugh, active wear – Mode und Mindset
von Gabriel Roland
Es gibt nicht viele Dinge, die der österreichischen Gesellschaft ein gleichermaßen unscheinbarer wie durchdringend einflussreicher Spiegel sind wie der Diskontsupermarkt Hofer. Einen ungleich eingegrenzteren Eindruck auf die österreichische Kulturgeschichte hat Modedesigner Nhut La Hong hinterlassen. Während bei Hofer neben Brot, Gemüse, Fleisch, Milch und Eiern die Aspirationen großer Teile der Bevölkerung wohlfeil sind – Gaming-PCs, Poolreinigungsroboter, Trachtenanzüge, Karibikreisen –, ist La Hong hauptsächlich dafür bekannt »Szenedesigner« zu sein. Das heißt, er wird ab und an in den »Seitenblicken« dabei gezeigt, wie er in heiterer Konzentration eine Robe an einer jungen Dame der Gesellschaft absteckt. Seine Funktion scheint zu sein, die sich im bewährten Promi-Alphabet irgendwo zwischen C und F befindlichen Leute auch tatsächlich reich und schön erscheinen zu lassen. So sind sowohl La Hong als auch Hofer im Geschäft mit unseren Wünschen und Projektionen.
Inzwischen ist es über zehn Jahre her, dass sich ein kosmisches Fenster aufgetan hat, durch das eine Handreichung dieser beiden Akteure beobachtet werden konnte. Der Moment war flüchtig, mehr ein schnelles Abklatschen eigentlich, und der kommerzielle Erfolg der Kooperation blieb strittig. Nichtsdestotrotz haben die beiden Kollektionen, die La Hong gegen Ende der Nullerjahre für Hofer entwarf, ein Stück vielleicht abseitige, aber doch vielsagende Modegeschichte geschrieben. Die im Wind wehenden Looks, seidigen Jäckchen und Leiberl mit aufgedruckten Mandalas, die damals in der Gemüseabteilung anprobiert werden konnten, waren wie den in der Raffaello-Werbewelt an privaten Stränden frohlockenden Menschen direkt vom Leibe gerissen. Es gab Strass, Raffungen allenthalben und ja: auch eine Caprihose. Alles in allem handelte es sich um die Imagination neureichen und daher intensiven Müßiggangs, das Erobern exotischer Freuden und das Auskosten materieller Privilegien in sinnlicher Ekstase – kurz gesagt das Ibiza-Mindset in seiner ganzen Inspirationskraft und Trugbildhaftigkeit.
Zehn Jahre sind vergangen seit dieses Identifikationssystem, das sich Hofer und La Hong mit Camp David, Desigual und wie sie alle heißen, teilten, an der Spitze seiner Macht war. Damals war alles voller keck geschlungener Schals in Petrol, heute sind andere konkurrenzfähige Methoden der Selbstverortung hinzugekommen – allen voran das Spiel mit Authentizität, Ursprungsverbundenheit und Stabilität. Ganz unabhängig vom Diskurs um das Klima scheint unsere Welt kleiner geworden zu sein. Das Repräsentative muss man nicht mehr in der Ferne suchen, man wird vielmehr im Einfachen, Unscheinbaren und Robusten fündig, das man bisher gleich um die Ecke übersehen hatte. Es erübrigt sich hinzuzufügen, dass es sich dabei schwerlich um eine tatsächliche Besinnung, sondern um eine erneute Konstruktion handelt. Die Distanz des konsumierenden Subjekts zu den ihm vorgespiegelten Welten ist sowohl in Richtung der dekadenten Freuden als auch der authentischen Werte bequem.
Vielmehr ist es lediglich eine Verschiebung, wenn anstelle des Ankleidens, um jemand anderes, Besseres zu werden, die Verwirklichung im Eigenen tritt. Das kann seine Ausformung im Authentisch-Bodenständig-Heimischen finden, aber auch in einer Hyperindividualisierung des Marketings, also der Reduzierung der Zielgruppe auf eine einzelne Person. Marken von Weekday bis Ikea bieten inzwischen das Bedrucken, Besticken und Gravieren auf KundInnenwunsch an, die über unser Treiben auf Social Media gewonnenen Daten ermöglichen eine zunehmend präzisere Einflussnahme auf unser Konsumverhalten und hinter jeder Ecke lauern Micro-Influencer, die das gleiche Leben zu leben scheinen wie man selbst. Einen etwas weniger überbeschleunigten Ausdruck findet diese Entwicklung in der Popularität von Merch: Wir schmücken uns mit unseren eigenen, in Logos gegossenen Vorlieben, Überzeugungen und Kaufentscheidungen und schaffen damit so etwas wie eine nur von einer einzigen Person getragene Uniform.
Hofer wird mittlerweile stark mit seiner Bio-Linie »Zurück zum Ursprung« verbunden. Die La-Hong-Kollaboration hingegen ist vergessen. Das heute bei Hofer immer wieder erhältliche Gewand fällt größtenteils in die drei Kategorien Sport, Arbeit und Trachtiges, mit den jeweils daraus abgeleiteten Ausformungen für den bodenlosen Mischkessel der Alltagskleidung. Egal, ob es um krachlederne oder überindividualisierte Authentizität geht: Man zieht sich an, um zu zeigen, dass man etwas Sinnvolles tut, und nicht mehr, um die eigene Untätigkeit stolz augenscheinlich zu machen. Engelbert Strauss, Barbour, Dr. Martens und alle Sportmarken versinnbildlichen die Nostalgie der letzten Generation vor der vollständigen Automatisierung, die sich selbst ihrer Vita activa versichern muss. Anderswo wird schon die Zukunft geprobt: Der endlose Strom parametrisch erzeugter und virtuell vermarkteter Sneakers – ob »ugly« oder »dad« – könnte genauso gut nach einem menschenfreundlichen AI-Takeover fließen.